Rastlos und ohne Ziel stapfte er einsam durch den Norden der Stadt. Seine Gedanken torkelten ungestüm umher und drehten sich dabei wie wild im Kreis. Die vergangene Nacht war turbulent und ließ wie so oft ein undurchsichtiges Gewirr aus unbeantworteten Fragen zurück, die nun in seinem Geist herumspukten. Auf der Suche nach Glück war er erneut gestrauchelt, soviel war ihm bewusst. Immer wenn er glaubte, einen silbernen Schimmer am Horizont zu entdecken, entwickelte sich dieser schnell zu einem trüben und zähen Nebelschleier, der ihn fast vollständig umschlang. Um dieser bleiernen Wirklichkeit zu entfliehen, hatte er seine alte Spiegelreflexkamera und eine Hand voll Negativfilme eingepackt und sich auf den Weg in ihm bisher unbekannte Gefilde begeben.
Die Kopfhörer fluteten seine Gehörgänge in Endlosschleife mit dem immer gleichen Musikstück, welches die Szenen der letzten Nacht erbarmungslos zurück in seinen Verstand projizierte. Irgendwie musste er diese zermürbenden Bilder wieder aus dem Kopf bekommen.
Durch den Sucher der Kamera blickte er auf die klobigen Plattenbauten des Stadtrands. Wie steinerne Giganten lagen sie vor ihm, Fenster um Fenster aneinandergereiht, mit ihren kleinen Balkonzellen, deren Geländer irgendwann einmal mit frischen Volltonfarben versehen worden waren, um das Leben hier optisch ein wenig erträglicher zu gestalten. Er konnte sich nur schwerlich vorstellen, wie es sich wohl anfühlen muss, eine dieser Einheiten zu bewohnen und sein alltägliches Leben hier zu verbringen.
Der Spiegel klappte kurz nach oben und der Verschlussvorhang öffnete sich für den tausendsten Bruchteil einer Sekunde, um den Weg des Lichts auf die Fotoemulsion im Inneren des Gehäuses freizugeben. Daraufhin spulte der batteriebetriebene Motor leise surrend den Film um 36 Millimeter weiter nach vorn, um die Kamera für das nächste Betätigen des Verschlusses zu präparieren.
Während er die Architektur der Gebäude betrachtete, drängte sich ihm die Frage auf, was ihn an diesen eigenartigen Strukturen eigentlich so faszinierte. Das Zentrum der Stadt, welches er tagtäglich durchquerte, war mittlerweile glatt und dröge geworden. Institutionen der Vergangenheit mussten nach und nach unförmigen Gebilden aus Glas und Beton weichen. Konsumtempel und Kongresscenter wurden aus dem Boden gestampft. Kulturelle Anlaufpunkte verloren ihre Existenz an die Ideen offensichtlich größenwahnsinniger Politiker und Urbanisten. Die meisten Bestrebungen wurden dem Ziel einer möglichst effizienten Touristenabfertigung unterworfen. Der Stadtkern war bereits fast vollständig gentrifiziert und zu einem Tummelplatz gieriger Investoren geworden.
Fernab dieser Scheinwelt fand er hier am Rande der Stadt einen ganz anderen Zustand vor. Die grauen Fassaden der Typenbauten hatten sich im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert und konnten somit ihre individuellen Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit erzählen. Obwohl sie in gewisser Weise bedrückend wirkten, waren sie von einer fast klassischen Ästhetik gezeichnet. Eine zweckmäßige Symmetrie aus einfachsten Formen wurde mit subtilen dekorativen Elementen kombiniert. Jedes dieser Gebäude hatte im Laufe der Jahrzehnte sicher schon tausenden Menschen ein Obdach geboten. Er fragte sich, wie viele von ihnen wohl glücklich gewesen waren.
Nachdem er den Film zurückgespult und eine neue Patrone eingelegt hatte, wanderte er weiter Richtung Stadtrand. Vorbei an modrigen Industrieruinen, antik anmutenden Straßenlaternen und großflächig besprühten Garagenkomplexen überquerte er die weitläufigen Gleise der Regionalbahn und fand sich auf einmal inmitten einer riesigen verwilderten Brachfläche wieder.
Diffuses Sonnenlicht ließ die langen, leicht vertrockneten Grashalme in unwirklichen Farben leuchten. Kein Mensch war weit und breit zu sehen und trotzdem bewegte sich etwas. Ein Reh hüpfte einige Meter von ihm entfernt eilig davon, nachdem es ihn bemerkt hatte. Die Musik tönte noch immer in seinem Kopf. Am Horizont schimmerten matt die Dachspitzen des Doms. Noch nie hatte er sich so fremd in seiner eigenen Heimatstadt gefühlt, wie in diesem Moment.
Novosibirsk, neunzehn Uhr, Moskauer Zeit
Pünktlich auf die Minute und erstaunlich geräuscharm fährt der aus Moskau kommende, gewaltig anmutende Koloss auf seinem Gleis ein, wo er beinahe behutsam zum Stehen kommt. Die Wagentüren öffnen sich und überall steigen überdurchschnittlich groß gewachsene Chinesen in dunkelblauen Uniformen hinaus, um die Fahrkarten und Pässe der Einsteigenden zu kontrollieren und darauf zu achten, dass niemand ohne Befugnis den Zug betreten kann. Wir bugsieren unser Gepäck die steilen Stufen hinauf und schleppen uns durch den engen Gang in unser Abteil.
Für viereinhalb Tage soll dieser schmale Raum mit vier Pritschen, einem kleinen Tisch und einer Thermoskanne nun unser Wohn- und Schlafzimmer sein – so lange, wie die Expedition von Novosibirsk durch die Mongolei bis nach Peking dauern wird. Die wohl ungewöhnlichste Zugfahrt unseres bisherigen Lebens steht uns bevor.
Vieles funktioniert hier noch wie vor hundert Jahren. Unsere chinesischen Zugbegleiter, die kaum ein Wort Englisch sprechen, kehren die Gänge mit einfachen Strohbesen und heizen die Abteile und Wasserkessel mit lodernden Kohlen. Bei jedem längeren Aufenthalt müssen die Vorräte wieder aufgefüllt werden. Heißes Wasser ist das einzige Luxusgut, das zu jeder Zeit und umsonst zur Verfügung steht, damit man sich einen Tee aufbrühen und Pulvernahrung zubereiten kann.
An den Fenstern rauschen die unendlichen Weiten Sibiriens vorbei, schneebedeckte Wälder so weit das Auge reicht. Ab und zu durchbrechen kleine Dörfer mit ihren prächtigen bunten Hütten und holzverarbeitenden Betrieben die Monotonie. Immer wieder donnern schwer beladene Güterzüge an uns vorbei, die Baumstämme und rostige Container in enormen Mengen in das Landesinnere transportieren.
Nach einigen Stunden gibt es links und rechts nichts anderes mehr zu sehen als kahle Wüste, ein paar vereinzelte Strommasten und zerfledderte Plastiktüten, die den staubigen Boden strukturieren. Mit einem Mal ist alles um uns herum so ungeheuer flach und weitläufig wie nie zuvor. Irgendwo im Niemandsland stehen vereinzelt die runden Jurten der mongolischen Nomaden, hier und da trampeln Schafe oder Kamele durch den trostlosen Sand.
In einer kleinen mongolischen Stadt machen wir Halt und steigen aus dem Zug. Völlig unerwartet peitscht uns ein beißender Sandsturm entgegen, der uns binnen Minuten mit einer braunen Staubschicht überzieht und uns kaum noch aus den Augen schauen lässt.
Wir passieren die chinesische Grenze und in Erlian spüren wir erstmals chinesischen Boden unter unseren Füßen. Die letzte Nacht bricht über uns herein. Morgen nachmittag werden wir Peking, die Stadt des Himmlischen Friedens, erreichen.